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Das Eishorn

„Jasi! Wo läufst du hin?“

Jäh aus ihren Gedanken gerissen, sah Jasi sich um und bemerkte Boro und Nawo, die ihr vom Waldrand aus zuriefen.

„Ich schaue mich ein wenig im Tal um!“ rief Jasi und tollte weiter durch das Gras.

„Aber Mutter hat es uns verboten, dass wir den Wald verlassen. Es ist zu gefährlich hier draußen. Wegen der Menschen!“ Boro ging ein paar Schritte weiter und betrat das Tal, damit Jasi ihn besser hören konnte.

Jasi sah sich um. „Also ich sehe hier keine Menschen. Nur Hasen und Rehe – und wunderschöne Schmetterlinge! Seit doch keine Feiglinge. Hier passiert uns nichts!“

Mit diesen Worten, lief Jasi weiter. Sie dachte nicht weiter darüber nach, was ihre Mutter wohl dazu sagen würde.

Nawo sah ihr nach. „Was machen wir jetzt“, fragte er.

Boro sah Nawo an und grinste. „Wir sind doch keine Feiglinge!“, erwiderte er, woraufhin er ebenfalls ins Tal hinein lief.

Erschrocken sah Nawo seinen beiden Geschwistern nach. Alles in ihm sträubte sich dagegen, den beiden zu folgen, denn er hatte tatsächlich Angst. Andererseits wollte auch nicht als Feigling bezeichnet werden. Schließlich gab er sich einen Ruck und rannte ebenfalls los.

Das schöne Wetter und die friedliche Stimmung im Tal ließ die Geschwister alsbald vergessen, dass sie hier draußen nicht unter dem Schutz der Herde standen. Die drei Einhornkinder liefen immer weiter, bis sie den Fuß des Berges erreicht hatten und dort am Bach spielten.

Bald schlossen sich ihnen andere Tierkinder an, denn sie vertrauten den ihnen Selbst Fuchs und Hase spielten vergnügt miteinander, wenn Einhörner dabei waren.

Doch das Toben und Spielen der Kinder wurde jäh von einem lauten Brüllen unterbrochen.

Alle erstarrten.

Jasi duckte sich ganz tief, als der Laut von den Bergen wiederhallte und ihr eine Gänsehaut auf dem Rücken bescherte.

„W-was war das?“ stotterte Nawo ängstlich.

„Psst!“, zischte Jasi „Duck dich“.

Es erklang ein weiteres Brüllen, und die anderen Tiere begannen sich in Sicherheit zu bringen.

Dieses zweite Brüllen war lauter als das davor. Es klang wütend. Dieser tiefe Ton musste zu einem großen Wesen gehören.

Die Einhornjungen gingen geduckt rückwärts, nur Jasi blieb flach auf den Boden liegen und lauschte. Immer wieder erklang das markerschütternde Brüllen. Es schien sich durch den Wald am anderen Ende des Tals zu bewegen.

Jasi zitterte vor Angst. Ihre beiden Brüder waren bereits weit zurück gewichen, und Jasi wusste, dass es schlauer wäre, ihnen zu folgen. Aber sie konnte nicht. Sie wusste nicht, ob es die Angst war, welche sie fesselte, oder ihre Neugierde: sie wollte wissen, was da im Wald umher ging. Für sie klang das Brüllen eher nach etwas Wehleidigem. Irgendetwas war sehr erzürnt oder traurig. Doch was es auch war, es kam immer näher.

Zwischen den Ästen der Bäume waren auf einmal große Flügel zu sehen und eine große, mit glänzenden roten Schuppen umrahmte Schnauze, reckte sich aus dem Dickicht hervor. Es schnupperte und brüllte dann wieder. Mit einem gewaltigen Sprung, dessen Landung die Erde erzittern ließ, stand ein rot geschuppter Drache vor Jasi.

Ihre Brüder rannten auf einmal laut wiehernd davon. Der Drache sah auf und sah den beiden Einhörnern hinterher. Er schien Jasi nicht zu bemerken.

Jasi nutzte diese Ablenkung, um auch ihrerseits rückwärts zu kriechen, um vor dem Drachen wegzulaufen. Langsam, mit behutsamen Schritten, wich sie zurück, stets bereit aufzuspringen und davon zu laufen. Der Drache sah sich schnuppernd um. Ob er sie riechen konnte? Ob er wusste, dass Jasi noch in der Nähe war? Wenn sie ehrlich war, wollte Jasi das gar nicht so genau wissen und kroch einfach weiter.

Plötzlich lenkte sich die Aufmerksamkeit des Drachen in ihre Richtung und er sprang auf sie zu.

„Hab ich dich“, grollte er, „du solltest besser auf dein Horn aufpassen, das glänzt nämlich!“

Der Drache brüllte sie an, und Jasi erstarrte wieder vor Schreck.

Sie beschnuppernd umrundete er sie. Jasi konnte nichts anderes tun, als einfach still da zu sitzen und zu hoffen, dass er sie nicht fressen würde. Dennoch fiel ihr auf, dass er sehr jung zu sein schien.

Denn Drachen taten so etwas – zumindest hatte sie davon gehört.

Aber dieser Drache fing nicht an, an ihr zu knabbern. Stattdessen setzte er sich auf seine Hinterpfoten und sah sie neugierig an.

„Mein Name ist Scheruske. Ich komme aus der Talenge im Norden. Und wer bist du?“

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Published inKurzgeschichten

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