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Das Eishorn

Jasi kauerte immer noch auf dem Boden und sah zu Scheruske auf.

„I-ich bin Jasi. Ein Einhorn aus dem Wald da oben“, vorsichtig machte sie eine Kopfbewegung in Richtung des Bergs.

„W-willst du mich jetzt fressen?“

Der rote Drache lachte los. „Dich fressen? Wie kommst du denn darauf? Ich fresse doch keine Einhörner!“

Erleichtert aber auch etwas verwundert sah Jasi auf. „Nicht?“

Scheruske schüttelte seinen mächtigen Kopf, wobei die Schuppen an seinem Hals das Sonnenlicht in die Farben eines Regenbogens zerbrachen.

„Einhörner sind schwer verdaulich, musst du wissen. Ihr habt zu viel Magie in euch. Ich hätte tagelang Bauchweh! Außerdem…“ Scheruske senkte die Stimme ein wenig „…außerdem brennt mein Hals so sehr, dass ich nicht einmal einen Menschen fressen könnte, wenn er jetzt vor mir stünde.“

Der Drachenjunge ließ den Kopf hängen. So wie er jetzt da saß, mit den angelegten Flügeln und dem langen schuppigen Schwanz, welcher sich um seine Hinterbeine gelegt hatte, sah der Drache gar nicht mehr bedrohlich aus.

„Brüllst du deshalb so herum? Wegen deinen Halsschmerzen?“

Der Drache nickte. Langsam fand es Jasi lustig, wie seine Schuppen bei jeder Bewegung die Farben wechselten. Ein farbenfrohes Spiel auf einem roten Hintergrund.

Wie Jasi den Drachen so betrachtete, fiel ihr auf, dass er tatsächlich nicht besonders groß war. Sie hatte von Drachen gehört, die höher als die Bäume waren. Ihr Schatten konnte ein ganzes Menschendorf verdunkeln. Aber Scheruske war nur halb so hoch wie ein Baum.

„U-und warum läufst du hier brüllend im Tal herum, wenn dir der Hals brennt?“

Scheruske sah wieder auf. „Na ja, ich habe den Bach gesucht, um die Halsschmerzen mit kaltem Wasser zu lindern, aber es hat nicht klappt. Das Bergwasser scheint nicht kalt genug zu sein. Ich habe heute viele Bäume und Menschenhöhlen angezündet, bis mir der Hals vom Feuerspucken wehtat. Dann musste ich aufhören Feuer zu spucken, denn es tat nur noch mehr weh.

Aber was bin ich denn für ein Drache, wenn ich kein Feuer spucken kann? Die anderen Drachenkinder werden mich auslachen! Scheruske der Feuerlose werden sie mich nennen. Wenn ich nicht bald wieder Feuer spucken kann, werde ich zum Gespött der Drachen und der Menschen!“

Wieder brüllte der Drache laut und es klang noch trauriger als zuvor. Jasi sah den kleinen Drachen mitleidig an.

„Wenn ich doch nur einen Weg finden würde, damit mein Hals nicht mehr brennt“, jammerte er, „nur ein bisschen Feuer müsste ich spucken, und ich könnte zurückgehen und wieder die Menschen ärgern…“

„Wie können wir dir nur helfen?“, fragte Jasi dann und ging noch etwas näher an ihn heran.

„Du bist doch ein Einhorn. Kannst du nicht irgendwas Magisches tun?“ Eine dicke Träne kullerte dem Drachen die bunte Wange herab.

„Nein…“, seufzte Jasi traurig. „Ich… ich bin nicht wie die anderen Einhörner. Mein Horn kann nicht zaubern, es ist einfach nur aus…“ Jasi stockte.

Ihr kam da eine Idee.

„Eis!“, rief sie laut. Scheruske sah sie fragend an.

„Natürlich! Leck an meinem Horn!“

Mit prüfendem Blick sah Scheruske auf das Horn und dann wieder auf das weiße Einhorn.

„Ich soll daran lecken?“ Er schnupperte kurz an dem Horn. „Bist du sicher?“

„Ja natürlich! Du musst deinen Hals kühlen, damit er nicht mehr so brennt. Mein Horn ist aus Eis. Das ist wunderbar kalt!“

Jasi strahlte über beide Ohren, als sie dem Drachen von ihrer Idee erzählte.

Der schien kurz darüber nachzudenken, ob ihm der Plan gefiel. Immer wieder sah er auf Jasis Horn und strich mit seiner Schlangenzunge über seine Lippen.

„Und du meinst das funktioniert?“

„Das wissen wir nur, wenn wir es ausprobieren!“, grinste Jasi und reckte Scheruske das Horn entgegen.

Zögernd streckte dieser seine Zunge aus und begann an dem Eishorn zu lecken. Es kitzelte, als die raue Zunge das Horn berührte. Sie kicherte leise, aber sie versuchte, still zu halten, damit Scheruske in Ruhe weiter an dem Horn lecken konnte.

So standen sie eine Weile da: Der kleine Drache, der im hellen Sonnenlicht bunt funkelte und an dem Horn eines noch kleineren und weißen Einhorns leckte, und Jasi, die sich bemühte still zu halten, obwohl es ihr an der Stirn furchtbar kitzelte.

Nach einer Weile hörte Scheruske auf an Jasis Horn zu lecken und schluckte prüfend ein paar Mal.

„Es hat funktioniert! Das kalte Eis hat meinen Hals beruhigt!“

Er holte tief Luft und spie eine kleine Feuerfontäne in den Himmel.

„Das Feuerspucken tut auch gar nicht mehr weh! Du hast mich geheilt!“

Stolz und erleichtert sprang Jasi auf alle vier Hufe.

„Es freut mich sehr, dass ich dir helfen konnte.“

Ja, Jasi hatte geholfen. Ihr Horn aus Eis hatte einem Drachen die Schmerzen vom vielen Feuerspucken genommen. Es war ein tolles Gefühl, dass sie helfen konnte.

Scheruske freute sich so sehr darüber, dass ihm der Hals nicht mehr wehtat, dass er ein paar Flammen spie und über die Wiese hüpfte, wobei er bei jedem Sprung die Erde beben ließ.

„Vielen Dank, Jasi Eishorn!“, rief er laut aus und sprang um sie herum.

„Komm, lass uns am Bach spielen oder zeig mir deinen Wald!“ Der kleine Drache lief aufgeregt vor und sah dabei auffordernd zu Jasi.

Das Einhornmädchen sah ihm verlegen zu und folgte ihm dann. Sie hatte anscheinend einen neuen Spielkameraden gefunden – einen sehr lauten und großen, aber er schien sehr lustig zu sein.

Sie liefen eben zurück zum Wald, Jasi konnte es kaum erwarten ihren Brüdern ihren neuen Freund vorzustellen, als sie laute Hilfeschreie hörten. Das konnten nur ihre Brüder sein! Zusammen liefen sie in die Richtung, aus der die Rufe kamen.

Nicht unweit des Walds fanden sie die beiden Brüder umzingelt von einer kleinen Gruppe Menschen.

Die beiden versuchten verzweifelt, den Menschen zu entkommen. Sie traten aus und bäumten sich auf. Die Menschen aber schienen von der Chance, an ein Einhorn zu gelangen, so beflügelt zu sein, dass sie sich nicht einschüchtern ließen. Mit ihren Heugabeln und Spitzhacken bedrohten sie Jasis Brüder weiter und versuchten, ihnen Schlingen über die Köpfe zu werfen.

„Scheruske, du musst ihnen helfen, Das sind meine Brüder!“, flehte Jasi den Drachen an. Scheruske ließ sich nicht lange bitten und stieß ein furchterregendes Brüllen aus.

Erschrocken drehten sich die Menschen um, und als sie den Drachen sahen, ließen sie Heugabeln und Seile fallen und liefen schreiend davon.

Die beiden Eihornjungen standen ebenfalls verängstigt wie angewurzelt da.

„Ei-ein D-d-drache!“, rief Nawo und wich zurück.

„Keine Angst, er tut euch nichts. Im Gegenteil, der Drache Scheruske hat euch gerade eure Hörner gerettet!“ Jasi strahlte wieder.

Die beiden Brüder sahen den Drachen ehrfürchtig an und staunten.

„Wie kommt es, dass du mit einem Drachen unterwegs bist?“, fragte Boro schließlich.

„Das ist ganz einfach: Ich habe ihm geholfen, und nun hilft er mir. Ich glaube, wir werden viel Spaß zusammen haben!“

Jasi lächelte den Drachen an. Sie und ihre Brüder hatten einen Freund gefunden, der sie vor den Menschen beschützen konnte. Nun konnten sie endlich gefahrlos im Tal spielen.

Aber was viel wichtiger war: Endlich wusste Jasi, wofür ihr Horn aus Eis gut war, und dass es tatsächlich nützlich sein konnte.

Der Drache Scheruske hatte nie wieder Halsschmerzen.

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Published inKurzgeschichten

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