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Die Ruhe vor dem Sturm

Klavierspiel

Ich hatte die Zeit völlig vergessen, war in Gedanken gefangen gewesen. Jetzt, da ich die Emotionen und das Tier weggesperrt hatte, gab es endlich Gelegenheit, über alles nachzudenken, ohne davon gestört zu werden. Als mich das Öffnen der Ladentüre aus eben diesen Gedanken riss, registrierte ich erst, dass ich schon wieder vor dem Musikinstrumentengeschäft stand und auf dieses teure Klavier starrte. Warum war ich eigentlich hier?

„Darf ich Sie einladen, es einmal zu testen?“, sprach die Frau mich an. Es war die gleiche Person wie schon zuvor und ich nahm nicht mal richtig wahr, dass sie direkt Japanisch mit mir sprach. Überhaupt hatte ich sie mir bisher nicht wirklich angesehen, was ich nun unbewußt wohl tat – wie an ihren Augen zu erkennen war. Sie beherrschte die Landestypische Höflichkeit gut – ich wusste, das hinter dieser japanischen Fassade ALLES hätte stehen können.

Auf mein Schweigen öffnete sie die Tür wieder und hielt sie auf, bedeutete mir mit einem Kopfnicken, herein zu kommen. Nun stand ich doch etwas verhalten da – und es wäre jetzt meinerseits unhöflich gewesen dieser deutlichen Einladung nicht zu folgen. Was sollte es schon schaden?

Drinnen erkannte ich meinen Irrtum, es war ein reines Klaviergeschäft und hier standen nur die Besten der Besten – unbezahlbar für den Normalsterblichen und ein Muss für jeden guten Pianisten. Vater hatte immer davon geschwärmt – und ich habe nicht zugehört.

„Spielen Sie?“, fragte die kleine Frau. Tatsächlich hatten mich die Klaviere mehr in den Bann gezogen, als ihre Erscheinung – oder doch nicht? Meine Gedanken kreisten wieder, das war gar nicht gut. Zuviele Erinnerungen an früher, meine Familie. Streit, Machtkämpfe. Meine Finger berührten vorsichtig die glänzende Oberfläche des Yamaha Klaviers – ob es einfach die Zugehörigkeit zu Japan war, die mich das Steinway links liegen ließ? Völlig egal, ich erinnerte mich an die Klavierstunden, gegen die ich mich irgendwann so gewehrt hatte. Es war nicht leicht, sich zu erinnern… ein verdrängter Schmerz erwachte wieder.

„Darf ich?“, ich blickte ihr in die Augen und sie nickte nur, machte dazu eine einladende Geste mit der Hand. Also setzte ich mich … und starrte auf die Tasten. Ich wusste nicht so recht, wie ich anfangen sollte. Die Erinnerungen verblendeten meine Sicht. Die ersten Töne wurden also nicht von mir gespielt, sie hatte sich einen Hocker dazugeholt und demonstrierte mir dieses wundervolle Klangwerk – natürlich, sie wollte diese Dinger ja verkaufen, da war es umso besser, wenn sie es selbst beherrschte – und sie war wirklich gut.

Ein schüchternes Lächeln war vorerst meine einzige Antwort, ich lauschte ihr einige Zeit – sie beugte sich seitlich an mir vorbei, um alle nötigen Tasten erreichen zu können. Dabei spürte ich ihren Arm an meinem Oberkörper, auch als ich zurückwich, um ihr Platz zu schaffen, reichte es nicht, um eine Berührung zu verhindern. Ihr schien das nichts aus zu machen, ich wäre am liebsten rückwärts vom Hocker gerutscht bis ich auf dem Boden mit meinem Hinterteil gelandet wäre. Doch bevor dies geschehen konnte, ergriff sie meine linke Hand und spielte mir den Teil vor, den ich übernehmen sollte, damit sie nicht halb über mich gelehnt weiterspielen musste. Es war ein stilles Einverständnis – und so schwer war der sich stetig wiederholende Part auch nicht. Das bekam ich dann gerade so hin, erst zaghaft…

Ich war wieder 13… meine Klavierlehrerin war eine alte Schabrake, der am liebsten noch mit dem Stock erzogen hätte… und es ab und an auch tat. Wenn mir meine Finger nicht vom Klavierspielen weh taten, dann von den Schlägen auf die Finger. Das hörte erst später auf, als ich eine neue Lehrerin bekam, die meine „Künstlerhände“, wie mein Vater es ausdrückte, nicht zerstörte. Dafür war die neue dann zwar jünger, aber auch inkompetenter – von ihr lernte ich nichts neues mehr, bis ich das Spielen dann boykottierte.

Jedenfalls hatte ich den strengen Blick wieder im Nacken mit der Gewissheit, dass sie ihren Bambusstab in den Händen hielt und auf jede Bewegung meiner Finger achtete. Es beflügelte mich – das war genau das, was ich brauchte: Druck. Auf einmal konnte ich wieder spielen, als hätte ich nie eine langjährige Pause gemacht – nunja nicht ganz. Ich war früher mal besser…

Das Lied war zuende und sie blickte mich erwartungsvoll? an. Ihr Blick war für mich nicht deutbar, aber ich wusste ja auch, dass wir Japaner gute Schauspieler sein konnten – mussten in unserer Gesellschaft. Ich war froh, dass es hier in Deutschland nicht ganz so extrem zuging. Aber das war nicht wichtig, ich wollte spielen und sie hatte mich dazu animiert. Also spielte ich – es war ein Lied, dass ich meiner Mutter zu ihrem letzten Geburtstag vorgetragen hatte.

Meine Finger glitten irgendwann automatisch über die Tasten. Nicht dieser Automatismus, den ich beim Training hatte, das hier war viel Gefühlvoller. Jede Bewegung erzeugte etwas wundervolles, friedliches. Es erinnerte an alte Zeiten, an schöne Momente – und schob all den Ärger und das Leid beiseite. Das war viel angenehmer, als einfach Emotionen wegzusperren… es war etwas, dass sich „richtig“ anfühlte. Es war unheimlich befreiend…

Als ich fertig war, wischte mir etwas über die Wangen. Ich öffnete die Augen wieder und sah noch, wie sich das Taschentuch wieder von mir entfernte – es war blutgetränkt. Ich hatte einiges an Gedanken einfach ausgeweint… aber… oh fuck!

Ich riss den Kopf zu ihr herum, mein Gesicht musste Bände sprechen. Sie faltete das Taschentuch langsam immer kleiner zusammen. Ihr Gesicht war ausdruckslos, dieses Mal waren es ihre Augen, an denen ich erkennen konnte, dass sie keinerlei Überraschung, Angst oder etwas derartiges in sich ruhen ließ. Es war eine Gewissheit, die mir jetzt erst langsam bewußt wurde.

Keiner von uns hatte geatmet oder einen Herzschlag gezeigt, was im Prinzip ziemlich töricht gewesen war.

„Ein schönes Lied, wenn auch ein trauriges.“, sprach sie nun. Es klang wie das Lob meiner Klavierlehrerin. Nicht mehr und nicht weniger. Aber sie fügte noch etwas an, dass mich fast im Dreieck hätte springen lassen: „…Tenshi*.“ Sie war offensichtlich doch angetan von dem Lied, auch wenn ich darüber erst stolperte, nachdem ich mich fragte, woher sie meinen Namen kannte. Bis mir auffiel, dass sie diesen gar nicht direkt genannt hatte.

Ich hob einen Mundwinkel und ergriff das Taschentuch, welches in ihren Händen ruhte und verstaute es in meiner Hosentasche. Ich war noch zu sehr in der Erinnerung zu meiner Mutter gefangen, als das ich für ein Gespräch bereit war. Also ging ich.

Sie schwieg. Ich schwieg. Ein stummes Einverständnis.

Unterwegs hörte ich mein Tier flüstern: „Du glaubst doch nicht etwa, dass du mich mit deiner Musik besänftigt hast. Ich werde niemals Ruhe geben, egal wie oft du mich wegsperrst. NIEMALS!“

Ich würde wiederkommen… müssen.

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*Tenshi, jap.: Geschenk (aber auch Engel)

Published inRollenspiel-Storys

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