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Ich weiß, wie du denkst.

Ich betrachtete die Skizze nochmal, ehe ich sie an dem Korkbrett mit vier Pinn-Nadeln befestigte. Der Schreibtisch war damit frei für ein neues, leeres Blatt Papier, welches ich auch sogleich hinlegte. Aber mehr als Bleistift und Lineal dazu zu legen konnte ich nicht, ehe ich wieder auf die drei Papiere am Korkbrett schaute. Prinzipiell war es jedes Mal die gleiche Anlage, aber immer mit anderen Überlegungen zu den Stellen, die wir nicht kannten – und das waren eine Menge. Ich würde tausende Skizzen anfertigen können und trotzdem keine dabei haben, die stimmte. Wir würden beinahe blind hineingehen müssen.

Warum störte es mich jetzt und früher nicht? Einfach. Ich war nicht lebendig und musste mir auch keine Sorgen ummein Leben machen. Und jetzt? Es gab zwei Dinge, die mir den sicheren Tod bescheren konnten, ohne das ich auch nur in die Nähe einer Gefahrenquelle gelangen musste. Wovor musste ich mich also noch fürchten, wo mein vorzeitiges Ende doch besiegelt war? Hoffnung. Das Problem mit dem Schnitt würden wir vielleicht wirklich beheben können – so wie auch der Fluch nicht unbedingt zutreffen musste. Da hatte mein Bruder leider mehr Chancen drauf als ich.

Wofür kämpfst du, wenn nicht um dein eigenes Leben? Ich rollte mit den Augen, als mir Gambit schon wieder in den Sinn kam. Warum hat Ryuo Jasmin benutzt, warum benutzt Gambit Anastasia? Warum hat Ryuo Anastasia benutzt… Moment. Ich runzelte die Stirn und dachte an Jasmin und Gambit. Verbindungen überall, die Schicksalsfäden müssten so eng sein, dass sich niemand mehr bewegen kann. Aber eine Person stand Abseits davon. Rain.

Ich biss mir auf die Lippe, nicht nur ein bisschen, sondern so, dass es schmerzte und dennoch ohne das Blut floss. Dann nahm ich den Bleistift und zeichnete mit  wenigen Strichen einen Stern, da sie sich alle in der Mitte überschnitten. Schließlich malte ich zwei Kanjis dazu, eines über der Strich-Ansammlung und eines darunter. Jenes oben stand für Weg, das Untere für Verbindung. Es dauerte nicht lang, bis die Striche sich in Fäden wandelten, bis ich schließlich wieder Einblick auf die Schicksalsfäden hatte. Verbindungen, die unsere Wege darstellten die wir gewählt hatten. Vielleicht auch jene, die wir noch gehen werden.

Denn anders konnte ich mir einige Farben einfach nicht erklären. War unser Schicksal wirklich vorbestimmt und alle, sogar jemand wie Gambit, waren nur Marionetten einer bereits festgelegten Geschichte? Ich schüttelte zu mir selbst den Kopf. Die Farben hatten sich verändert im Laufe der Zeit, es waren neue Fäden hinzugekommen, die vorher nicht da waren – oder habe ich sie vorher nur einfach nicht wahrgenommen? Diese Denkweise brachte mich nun auch nicht weiter.

Mir ist irgendwie einer der schwarz/roten Fäden abhanden gekommen, dafür war da nun ein grüner und ich überlegte kurz. Das war der zu Rain. Die blassen Schicksalsfäden von Ryuo waren alle weg, aber ich konnte den gräulichen Schleier auf den anderen wiedererkennen, als ich sie genauer betrachtete. Der verbliebene schwarz/rote zu Anastasia war davon betroffen. Das schwarz war sogar stark verblasst. Aber es war noch da, ein Zeichen meiner Schuld auf ihrer Seele. Dazu kam mir noch ein anderer Gedanke. Bei Rain und Jules war der Faden nur auf einer Seite rot gewesen und auf der anderen rosa. Bei Anastasia und mir war das nicht so…

Ich holte einmal tief Luft und seufzte dann. Da war sie also, die andere Seite der Medaille. Ich wusste, wie es sich anfühlte, zerrissen zu sein. Dennoch konnte ich nur ahnen, was sie durchmachen musste. Wäre Ryuo eine eigenständige Person gewesen, war es sicher einfacher ihm allein die Schuld zu geben. Aber das ist es nicht. Anastasia schien zwischen dem Leid und der Freundschaft, die sie mit mir in Verbindung brachte zerissen zu sein. Ihre einzige Möglichkeit war, eines davon weg zu werfen…

Ich schüttelte zu mir selbst den Kopf. Freundschaft stellte sich doch in blau auf den Fäden dar. Mein Blick ging nach unten, direkt auf den Faden, der in mir endete. Sollte ich mich in meinen eigenen Gefühlen getäuscht haben? Wann hatte ich auf die eigentlich das letzte Mal geachtet? Mein innerer Zwiespalt hat mich wirklich ganz schön aus der Bahn geworfen, ich wusste selbst gar nicht mehr wie wichtig mir jemand war. Zeigten mit die Schicksalsfäden die Wahrheit, die ich nicht erkannte?

Eigentlich… war das viel schlimmer als die Tortur von Gambit. Das Wissen gegen alles verstoßen zu haben, was mir heilig war – und dann auch noch an einer liebenswerten Person wie Anastasia. Leider konnte ich nicht mal behaupten, dass Gambit die bessere Wahl für sie war. Selbst wenn er dieses Mal alles ernst meinte, wenn er sie nicht ausnutzte sondern nur das verlangte, was man von einem Menschen den man liebte eben verlangen konnte… selbst dann brachte er sie in Gefahr, weil er sich einfach schon zu viele Feinde angeschafft hatte. Der Rote Speer könnte ihn weiter verfolgen – und wer weiß, wen er noch vor den Kopf gestoßen hat in seiner bisherigen Karriere als Schlitzohr.

Tja, was war nun besser – die Liebsten von sich fernhalten, um sie aus Problemen heraus zu halten oder sie um sich zu haben, um wenigstens ein bisschen Liebe ab zu greifen? Ich habe beides versucht und beides ist nicht ideal. Umeko und Rin sind in Japan, Jasmin ist knapp am Tod vorbeigerutscht und in den Händen der Templer gelandet. Nichts davon machte mich glücklich.

Ich schaute wieder auf die Schicksalsfäden zurück. Ich war wieder eins mit mir selbst, aber irgendwie war ich immer noch nicht am richtigen Punkt angekommen. Jetzt, wo ich nicht mehr gegen mich selbst kämpfte, brauchte ich eine neue Motivation, ein neues Ziel – einen Antrieb. Mehr als den Drang, die Personen um mich herum – allen voran Anastasia – zu beschützen. Das konnte nicht alles sein. Ich versuchte, zu lehren. Doch was hatte ich zu lehren außer die willentlich hervorgerufene Ruhe des Geistes? Sollte ich nicht irgendwas in dieser Welt hinterlassen, bevor sie neu geformt wurde? Sollte dies das Vermächtnis sein? Eine neue Welt?

Oh…. das war doch nicht etwa eine Midlife Crisis? Ich ließ die Sicht auf die Schicksalsfäden fallen und begab mich ins Badezimmer, betrachtete mich selbst im Spiegel. Dabei fiel mir auf, dass ich das schon lange nicht mehr getan hatte. Natürlich entdeckte ich keine Falten, die mein Alter zeigten. Trotzdem fühlte ich mich alt. Fast 30. Nurnoch zehn Jahre… argh, ich glaubte an den Fluch. Daran ließ sich nichts rütteln. Ich würde wahrscheinlich auch nach 40 jeden Tag damit rechnen, doch noch zusammen zu klappen.

Ich bin ein Magus, verdammt! Warum sollte ich das einfach so hinnehmen?

Warum sollte Gambit es einfach so hinnehmen? Ich wandte den Blick von meinem Spiegelbild ab und ließ ihn ziellos durchs Bad streifen. Warum dachte ich soviel über den Mistkerl nach? Das war beängstigend, soviel Aufmerksamkeit hatte er gar nicht verdient… und doch wäre es dumm, nicht über ihn nachzudenken. Ich konnte gar nicht anders, wegen Anastasia. Ich machte mir Sorgen um sie, nicht nur weil ich das Ende von Blaze erlebt habe… Es ging gar nicht um Gambit, sondern um Anastasia.

Ich fuhr mir durchs Haar und schaute mich selbst unzufrieden im Spiegel an. Ohnein, ich durfte das nicht zuende denken. Das war gar nicht gut. Ich durfte nicht nochmal… Ich verließ das Bad wieder und ging zurück ins Zimmer. Aber ich konnte nicht entkommen. Ich musste wieder an Ronja denken. Die erste, die sich wirklich in meinem Herzen festgesetzt hatte ohne es zu wollen. Sie war immer noch da. Genauso wie Eve, aber in anderer Form. Die erste Liebe und der erste Sex – mit zwei völlig unterschiedlichen Frauen. Ohja und ich hatte mir doch vorgenommen die Vergangenheit ruhen zu lassen. Denn ich musste im hier und jetzt denken und handeln. Ich musste aufhören zu vergleichen!

Aber etwas blieb, als ich mich aufs Bett setzte. Eine Erkenntnis. Ich konnte nicht einfach irgend wen beschützen. Es brauchte emotionale Bindung. Das war mein Motor, der mich alles geben ließ. Sogar meine eigene Seele, die ich wahrscheinlich schon irgendwo verkauft hatte ohne es zu wissen. Emotionen sind das, was uns antreibt. Nicht Kalkulation. Pläne sind nur halb so gut, wenn niemand mit Überzeugung dahinter steht. Überzeugung kann man nicht kalkulieren.

Ich ließ mich nach hinten ins Bett sinken und starrte an die Decke. Wofür kämpfst du, wenn nicht um dein eigenes Leben? Es gab tausend Gründe. Gambit wusste das. Ich wusste das.

Uns unterschieden nur die Karten. Hut und Stock hatte ich schon erreicht.

Aber ich würde nie mehr mit Karten spielen. Dafür war es an der Zeit mir meine Streifen zu verdienen!

Published inRollenspiel-Storys

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