Sotoori blieb stehen und betrachtete ihre Umgebung. Die Stadt veränderte sich und ihre Bewohner spürten es. Durch ihre Gabe das Chi stärker lenken zu können als andere Lebewesen, war es für sie jetzt sogar sichtbar. In glitzernden Punkten schwebte es gen Himmel, um den gefallenen Fürsten zu ehren. Die wenige Menge, die in die Umgebung abgeflossen war, war durchaus genug gewesen, um der kränklichen Stadt neue Energie zu geben. Es war, als war sein Geist in dieser Heimat immer noch anwesend.
Nur eine Straße weiter schoss ein Bündel Energie nach oben, genug für ein Menschenleben. Sotoori hechtete um die Straßenecke, um zu sehen woher das kam. Sie hob erstaunt beide Augenbrauen, als sie den gerade auf dem Boden eingeschlagenen Körper entdeckte. Der ihr unbekannte Mann verrottete, schneller noch als der Tenno es getan hatte. Natürlich, seine Energie war längst weg – verflüchtigt in den Abendhimmel. Aber wieso?
Eine weitere Energieerschütterung lenkte ihre Aufmerksamkeit auf sich. Diesmal musste sie weiter laufen, aber auch hier war das Bild das gleiche: Eine rasch verrottete Leiche die auf der Straße lag. Dieses Mal gab es allerdings eine Zeugin. Die junge Frau saß fassungslos neben dem Leichnahm, der vor ihr zu Asche wurde. Sotoori fragte sie, während sie beruhigend eine Hand auf ihre Schulter legte: „Was ist geschehen? Egal, wie seltsam das jetzt ist – was ist geschehen?“
Die Frau zitterte am ganzen Leib: „Er… er ist einfach umgefallen…“ Sotoori runzelte die Stirn und blickte sich um: „Wart ihr alleine hier?“
„Ja… wir wollten gerade zurück nach Hause… was… was geschieht hier?“
Sotoori schaute der Frau traurig in die Augen und flüsterte: „Die Kami* verlassen diese Welt… ohne Kaze* werden sie nicht wiedergeboren. Der Tenno ist tot.“
Verständnislos blickte die junge Frau Sotoori nach, die wie in Trance weiterzog.
Es stiegen immer mehr gebündelte Energieladungen gen Himmel, Sotoori wusste das hier in Kyoto sehr viele Kuei-Jin beheimatet waren. Ein paar Energiesignaturen erkannte sie wieder und konnte ihnen Gesichter oder gar Namen zuordnen. Vor vielen von Ihnen hatte sie sich verstecken müssen, aber zwei davon kannte sie als Verbündete. Ihr Herz wurde schwer. Sie hatte nicht erwartet, dass sie ihm in den Tod folgen würden. Sie hatte nicht gewusst, dass dies so überhaupt möglich war.
Der Ka-Jin, der sie begleitete brach zusammen. Das lenkte sie ab. Sie betrachtete ihn, er hatte Schmerzen ohne ersichtlichen Grund. „Enigma?“, fragte sie verwirrt. Die Dinge liefen überhaupt nicht so, wie die Shih es geplant hatten. Sie hatten sich alle geirrt…
Sotoori konnte nicht wissen, dass auf der anderen Seite der Welt drei Kugeln in Belzebub einschlugen und Enigma dies jetzt spürte. Die folgenden Schmerzen durch die grobe Bewegung ihres Körpers beraubten den Malkavianer seines Bewußtseins und die Japanerin verstand nicht warum das so war. Aber er starb nicht, er verottete nicht, er zerfiel nicht zu Asche. er war einfach ohne Bewußtsein. Damit war klar, dass die Ka-Jin nicht von diesem Genozid befallen waren – jedenfalls nicht durch den Tod des Tenno.
Sotoori hob Enigma über eine Schulter und schleppte ihn durch Kyotos Straßen. Es kostete sie viel Konzentration diese Kraft auf zu bringen, aber sie war noch immer im Reinen mit ihrem inneren Chi, sodass es gelang den soviel größeren jungen Mann mit sich herum zu tragen. Das sterben den Kuei-Jin war hier in der Stadt längst vorbei, als sie den Stadtrand erreichten – jedoch konnte sie in der Ferne weitere Lichter emporsteigen sehen – und sie verflüchtigten sich nicht einfach im Himmel… sie bewegten sich nach Kyoto!
Sotoori legte Enigma neben der Straße ab und atmete tief durch. Sie konzentrierte sich auf das bewegliche Chi in ihrer Umgebung, um dessen Strömung zu verfolgen. Ihr Blick glitt zurück in die Stadt, zum Palast des Tenno. Dort sammelte sich alles. Aber es war nicht ihr Vater, das spürte sie. Etwas nahm die ganze Energie der Kuei-Jin auf, riss sie ihnen aus ihren toten Körpern. Es musste ein Seelenfresser sein, einer der so mächtig war, dass er den wandelnden Toten einfach ihre Geister entreißen konnte – und das auf unsagbare Entfernung.
Wo kam dieses Monstrum her? Sotoori betrachtete die Tasche, in der die Asche ihres Vaters lag. Zweifel erfüllten ihr Gemüt. Die Shih hatten etwas ganz entscheidendes übersehen: Der Tenno hatte sie geschützt. Kyoto würde untergehen, doch das schien erst der Anfang zu sein. Wenn die Kuei-Jin nicht mehr waren, würde der Seelenfresser nicht aufhören – das Taten diese Monster nie. Japan, Asien, der Rest der Welt…
Was hatte sie getan?
„Sensei!“
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*kami = Geister
*kaze = Wind
*Kamikaze (jap. 神風, dt. göttlicher Wind) ist der japanische Begriff für ein Phänomen, das im 13. Jahrhundert zur Verhinderung zweier Mongoleninvasionen in Japan beitrug. Diese beiden Stürme wurden als Götterwind bezeichnet und bestärkten die Japaner in dem Glauben, ihr Land werde von den Göttern beschützt.
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