Der Mond erhellt die Straßen, eine Ratte sucht sich eilig ihren Weg zwischen den Leichen hindurch. Allen wurde der Kopf abgetrennt, doch bis auf ein paar Spritzer an der Wand fehlt sämtliches Blut. Während er geschmeidig an den Körper vorbei geht, zersetzt sich der ein oder andere Tote und wird zu Asche – die anderen waren noch nicht lange genug Untot. Satt leckt er sich den Rest der Vitae von den Lippen. Diese Stadt ist eindeutig überbevölkert an Blutsaugern. Aber seine Schwester hängt an Paris, will einfach nicht aufgeben.
Leise öffnet er die Tür zu dem schäbigen Hinterzimmer und bemerkt etwas völlig unerwartetes. Es riecht nach Magie, sofort wird er aufmerksamer. Mit seinem scharfen Adlerblick sucht er den Raum nach Personen ab, aber auch die Disziplin des Sehens enthüllt nichts. Der Magiegeruch ist wieder fort. Irrte er sich?
Die Stufen nach oben knarren. Am Ende steht eine Gestalt und betrachtet ihn, rührt sich aber sonst nicht weiter. Er kennt die Person, irgendwo tief in seinen Erinnerungen ist sie beerdigt worden. Ohne Scheu betrachtet die Gestalt ihn, als er schließlich vor ihm steht. Mit einem freundlichen Lächeln begrüßt der Jüngling ihn in altem japanisch: „Lange ist es her, großer Bruder.“
Cuervo spürt einen Stich im Brustkorb, als wäre sein bereits totes Herz wieder zum leben erwacht und dann vor Schreck stehen geblieben. Die Gestalt bringt ihn tatsächlich aus dem Konzept, sodass er seinen Mund leicht öffnet, ihn aber wieder schließt, als keine Worte heraus kommen.
„Du hast es immer gehofft, nicht wahr? Weil du es nie mit eigenen Augen gesehen hast, nur meine Leiche und das Blut. Du hast immer gehofft, die Lebensesser könnten genau so wie die Kainiten einfach in Starre fallen und sich irgendwann wieder erheben. Letzte Woche hast du es entdeckt, sie können es tatsächlich, auch wenn es viel gefährlicher ist als für die Kinder Kains. Deine Hoffnung wurde beantwortet, großer Bruder.“
Cuervo betrachtet das Abbild seines kleinen Bruders schweigsam. Er ist es nicht, nur eine Einbildung seines Geistes. Sein kleiner Bruder hat das Wort ‚Lebensesser‘ immer verachtet, nannte die Kreaturen Kuei-Jin. Ebenso die Begrifflichkeit der Kinder Kains. Ka-Jin waren es aus seinem Munde. Es war also nur eine Projektion seines eigenen Bewußtseins. „Warum jetzt?“, flüstert Cuervo.
„Ich war immer dein Licht, deine Hoffnung. Als ich starb, starb auch ein Teil von dir. Du hast dich sehr verändert, großer Bruder. Du hast alle Erinnerungen an dein sterbliches Leben vergraben, mich eingeschlossen. Du hast es nicht nur verdrängt, du hast es vergessen. Du bist noch immer sehr Willensstark und hast einfach deinene igenen Geist ausgetrickst. Nun existierst du schon lange genug, dass deine Erinnerungen nicht mehr in deinem Geist, sondern in deiner Vitae gespeichert werden, weil in deinem Kopf einfach kein Platz mehr ist. Aber du vergisst, großer Bruder. Du vergisst wer du warst, du vergisst was Reue, Mitgefühl oder echte Liebe ist. Schwester hat dich an sich gebunden und du glaubst ihr liebt euch, aber das ist nicht das gleiche. Sie ist nicht mehr der Mensch, der sie mal war, großer Bruder. Sie ist durch und durch ein Kind Kains, die Menschlichkeit von der sie dir zu Anbeginn erzählte ist nur noch eine Legende. Tief in dir weißt du das.“
Cuervo ist es als geht ein warmes Leuchten von seinem kleinen Bruder aus, der Geruch von Magie ist unterschwellig dabei – nur eine Erinnerung. Allerdings bringt ihn der Gedanke an Magie zurück zu dem Grund, warum er hier ist. Sein Blick schweift kurz von seinem kleinen Bruder ab zu der Tür neben ihm. Im Raum dahinter liegt sein eigentliches Ziel, der Tremere welcher seine Schwester vom Thron stürzen will.
„Du… gehörst zu dem Schutzzauber des Blutmagiers, nicht wahr?“, Cuervo betrachtet wieder die Engelsgleiche Gestalt vor sich. „Du willst mir diese Dinge über Serrah nur einreden.“
„Du weißt, das es wahr ist. Ich hoffe, dass du dich wieder erinnerst… irgendwann.“, die Gestalt beginnt zu verblassen, mit einem hoffnungsvollen Lächeln.
Cuervo rührt sich erst, als die Gestalt seines kleinen Bruders gänzlich verschwunden ist. Dann reist er die Tür auf, voller Zorn rammt er seine Klinge in den Hals des Tremere, welcher ihn überrascht anblickt. Dies scheint nicht die Reaktion zu sein, die er erwartet hatte.
Cuervo knurrt ihn nur an: „Du wirst nie wieder Informationen aus meiner Vitae ziehen, noch irgendjemand anderes!“, dann reißt er die Waffe hoch und spaltet damit den Schädel des Kainiten. Die Vitae des Tremere besudelt bald darauf seinen gesamten Schreibtisch. Cuervo steckt das Haus in Brand und entflattert als Krähe in die Nacht davon.
Lasst ihn in Frieden!
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