Jill verkrampfte ihre Hände in dem Lenkrad des Geländewagens, der einmal zur Ausstattung der Jäger gehörte, sodass ihre Knochen weiß unter der Haut hervortraten. Ihr Blick war starr nach vorne gerichtet während sie fuhr, aber er ging durch die Person hindurch, die vor ihr auf der Harley saß. Sie war frustriert, verärgert und überfordert. Dennoch war dies der erste stille Moment seit langem, räumlich getrennt von den Rudelkameraden, die jeder in einem eigenen Gefährt die Straße entlangbretterten. Hier drin war sie allein mit ihren eigenen Anforderungen und dem Selbstdruck, den sie sich machte – und David.
Tot, wie er nunmal war, lag er eingebettet in Decken im hinteren Bereich des Wagens. Jill spürte die Last, die sein Abbleben hinterlassen hatte, aber auch die Leere. Der Alpha war tot, gestorben, damit das Rudel leben konnte. Jill musste noch in Erfahrung bringen, wie genau es geschehen war. Doch eines war sicher: Der Zusammenhalt, den das Rudel durch den Alpha gefunden hatte, zerbrach. Der Feind hatte der Schlange den Kopf abgeschlagen und der Rest irrte blind in verschiedene Richtungen. Jill fluchte, das durfte nicht passieren.
Nicht ihr. Ihr war nicht bewußt gewesen, welche Bürde sie in der Rolle des Beta-Tiers trug. Nun war sie ins kalte Wasser gestoßen worden – David war gefallen im Kampf, wie es sich für einen Ahroun gehörte – doch viel zu früh, unerwartet. Jill hatte die neue Rolle geerbt und war sofort mit den Dickköpfen des Rudels konfrontiert worden. Dickköpfe, die ein weitaus gefährlicheres und anstrengenderes Leben hinter sich hatten als sie selbst. Die Jährchen auf der Straße waren nichts im Vergleich zu jemandem, der gänzlich ohne zu Hause aufgewachsen oder ein Wolfsgeborener war.
Jill schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad. Sie war ein Engel im Vergleich zu den anderen Rudelmitgliedern, hat sich mit ehrlicher Musik ihren Magen gefüllt und verwandelte sich das erste mal, als sie jemanden schützen wollte. Auch das Training bei Hayley war zielgerichtet: Wyrmkreaturen mussten vernichtet werden. Die konnte man weitgehendst erkennen. Aber Menschen? Ja, es waren Jäger… und Jill dachte mehr als einmal, dass diese Silberkugel die letzte in ihrem Leben war… aber es waren Menschen. Verblendet und von ihrem Standpunkt aus das Richtige tuend. Aber keine Wyrmkreaturen, die man erlöste.
Es gab kein Schwarz-Weiß, es gab nur den Kampf ums Überleben und wer nicht für dich ist, ist gegen dich. Jill schüttelte den Kopf und blickte dann in den Rückspiegel. Der Wagen von Aiden war etwas zurück gefallen, vermutlich war Essen am Steuer ein Konzentrationsakt. Irgendwo dahinter vermutete sie den Hammer mitsamt Chris. Trotz ihrer Aussage, dass sie den Alphaposten niederlege, folgten die beiden ihr.
Jills Blick ging wieder nach vorn zu Duke und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Frustration machte sich breit. Vielleicht hätte sie ihn gehen lassen sollen um sein Problem mit der Litanei zu lösen, dann wäre der Pater vielleicht nie ins Flugzeug gestiegen. Jill hat sich Überwinden müssen, ihre Mutter zu kontaktieren, war mit weiteren persönlichen Dingen konfrontiert worden – völlig umsonst! Aber…
„Verflucht!“, sprach Jill leise in den Innenraum des Geländewagens. „David, es tut mir leid. Ich habe mich mitreißen lassen. Jetzt haben wir den Pater doch in Ruhe gelassen, weil ich mich hab hinreißen lassen.“
Das Sprechen löste irgendetwas, auch wenn es ein Monolog war und David nicht antworten konnte: „Schöne Scheiße, jetzt lass ich mich schon von Kerlen manipulieren… zu was bin ich geworden. Ein Biest, dass sich von Zorn leiten lässt und jeglichen Verstand über Bord wirft. Großartig…“
War es nicht genau das, was sie an Anderen verachtete?
„Du als Ahroun kannst das nicht verstehen, für dich war Kampf alles… aber du bist auch Zeugnis dafür, was geschieht, wenn man ohne Pause weitermacht. Du hast für den Fehler des Rudels bezahlt, so wie ich jetzt dafür bezahlen muss. David, du hast mir die Verantwortung übertragen… aber ich bin noch nicht bereit dafür… ich kann diese Chaoten nicht leiten.“
Jill nahm ihren Hut ab und warf ihn nach hinten, fuhr sich durchs Haar und sinnierte für einige Minuten stumm vor sich hin, ehe sie wieder sprach:
„David… was soll ich tun? Ich brauche eine Chance…“
Abseits der Straße marschierte eine Person entlang, Jill blickte in das Gesicht des jungen Mannes und er erwiederte den Blick, als er zufällig in ihre Richtung schaute. Es war nur ein kurzer Moment, bis Jill mit dem Geländewagen an ihm vorbeigefahren war, doch es kam ihr wie eine zähe Ewigkeit vor, während sich die Gedanken durch ihren Kopf wälzten. Als ihr endlich klar wurde, wo der Zusammenhang bestand, drückte sie die Bremse bis zum Anschlag durch.
Aiden war tatsächlich noch ein gutes Stück hinter ihr, Jill zögerte nicht, den Rückwärtsgang einzulegen, um neben dem halbnackten Burschen wieder anzuhalten. Wie in der Ferne nahm Jill das veränderte Motorengeräusch der Harley wahr und betrachtete den offensichtlich indianischen Mann, ohne zu bemerken, dass sie noch immer Tränen in den Augen hatte.
„Hey… wohin des Weges?“, versuchte sie freundlich Kontakt aufzunehmen. Der Bursche war ein Zeichen, da war sie sich sicher. „Brauchst du vielleicht eine Mitfahrgelegenheit?“
Der Gegenblick war abschätzend, aber interessiert: „Du siehst aus, als wäre jemand gestorben. Alles gut?“
Jill verkrampfte sich wieder ins Lenkrad und konnte die Tränen nicht länger festhalten…
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