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Animalisch

5. Tag

Joseph darf nicht sehen, dass ich wieder schreibe, er meinte, ich sollte meine Zeit nicht damit vergeuden diese ganze Scheiße aufzuschreiben, sondern mich lieber darum kümmern, dass wir was zu beißen zwischen die Kiefern bekommen.

Ich habe ihn noch nie so erlebt, er wird immer aggressiver. Aber es ist erst kurz vor Sonnenaufgang und Joseph ist bereits los um neues Holz für das Feuer zu suchen. In dieser Nacht haben uns die Wölfe noch immer nicht angegriffen, ich frage mich, was sie vorhaben… Ich hätte nie gedacht, dass Wölfe über so etwas wie militärisches und strategisches Denken verfügen. Sicher, sie zeigen bestimmte Jagdverhalten, ihre Jagdweise lässt gewisse strategische Muster erkennen, aber das, was diese Wölfe tun, grenzt bereits an Psychoterror.

Ich werde nun losgehen und versuchen irgendwas Essbares zu finden.

Es ist einfach schrecklich, ich weiß nun, warum es die Wölfe so sehr auf uns abgesehen haben.
Als Joseph wieder unterwegs war, nachdem er murrend die Beeren und Wurzeln aufgegessen hatte, die ich in einer klaren Suppe für ihn gekocht hatte und immer wieder nur etwas von frischem, salzigem Wolfsfleisch brabbelte, wagte ich es und ging an seinen Rucksack. Eigentlich ist es ja unser Rucksack, denn es ist der einzige den wir noch haben, aber Joseph allein trägt ihn die ganze Zeit. Jedes Mal, wenn er von seinen „Spaziergängen“ zurückkehrte, sah ich, wie er etwas darin verstaute und ihn dann fest verschloss und als er mich ansah und sah, dass ich ihn dabei beobachtet hatte, knurrte er mich nur wütend an und setzte sich dann ans Feuer. Mir war klar, dass dies als Drohung gemeint war, niemals an diesen Rucksack zu gehen.

Doch ich bin froh, dass ich es tat, denn nun sehe ich klarer. Es war der Schwanz und die blutige Pfote eines Wolfs, die ich darin fand. Joseph musste wieder Wölfe gejagt haben und sie – Ich wage es kaum diesen Gedanken auszusprechen, geschweige denn ihn nieder zuschreiben, aber so hart es auch ist er hat die Wölfe so wie sie waren, roh und blutig, gegessen. Zum Glück merkte Joseph nichts davon, doch die Familie dieser Wölfe vermisste ihre Mitglieder und sie rochen es, sie rochen das Blut ihres Bruders, des Sohnes, des Kameraden.

Sie werden ihn rächen, dass steht fest, doch warten sie ab, bis wir schwächer werden und ihnen nichts entgegen zu setzen haben, dann werden sie über uns herfallen und uns ebenso verspeisen wie es Joseph mit ihrem Verwandten tat, und sie werden sich ihre Mäuler danach ablecken und unser Blut genießen.

Doch wenn ich ehrlich bin, allzu erschreckend finde ich diesen Gedanken gar nicht mehr, denn allmählich wäre mir der Tod angenehmer, als diese bittere Kälte und die ständige Angst. Nicht die Wölfe sind es, vor denen ich mich fürchte. Nein, es ist mein eigener Bruder, der mir Angst einjagt. Er verhält sich immer eigenartiger, seine Blicke haben etwas von einem dieser Irren aus der Anstalt in Little Rock, starr und glasig sah er mich heute an, als er weiteres Holz in das Feuer legte. Irgendetwas in mir sagte mir, dass dies aber kein Holz war, was er da hinein warf und in einem Funkenregen aufging.

Angewidert wandte ich mich ab.

Ich werde die heutige Wache übernehmen, die Wölfe scheinen zu merken, dass es mit uns -vor allem aber mit Joseph- bergab geht, sie versammeln sich erneut um das Lager, dieses Mal zähle ich ein Dutzend von ihnen, silbern schimmern sie zwischen den Bäumen im hellen Licht des vollen Mondes, welches durch die die Kronen der Bäume herab fällt und vom Schnee reflektiert wird. Es ist wunderschön, wären da nur nicht diese Schatten um uns herum und dieses flaue Gefühl im Magen. Er knurrt ständig, er soll damit aufhören – Soll ich auch einen von ihnen essen…?

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