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Animalisch

6. Tag

Oh mein Gott, es ist geschehen.
Joseph ging heute früh wieder los doch bevor er im dichten Wald verschwand, wollte ich ihn unbedingt auf die Wölfe und diese Dinge in seinem Rucksack ansprechen. Ich versuchte ihm klar zu machen, dass die Wölfe nur deswegen hinter uns her waren.

Wir mussten verschwinden, den Tag nutzen und so weit wie möglich wieder nach Süden marschieren, endlich raus aus diesen Wäldern. Doch Joseph wollte nicht auf mich hören, er fing an mich anzuschreien „was erlaubst du dir eigentlich an meinen Rucksack zu gehen?! Ich hatte es dir doch ausdrücklich verboten!!!“

Joseph war völlig in Rage, ich versuchte ihn zu beschwichtigen, sagte ihm, er solle doch an seine Nerven denken und daran, dass wir zusammen halten mussten um aus diesen Wäldern wieder lebend heraus zu kommen, aber dazu gehörte auch, ehrlich zu mir zu sein und keine Geheimnisse vor mir zu haben. Wäre er gleich ehrlich zu mir gewesen, wir hätten bestimmt einen Weg gefunden uns zu retten.

Aber meine Worte brachten seine Wut nur noch mehr in Wallung, er schrie etwas von Verräter, ich hätte mich doch mit den Wölfen verbunden und solch ein Zeugs, er wurde richtig ausfallend mit seinen Kraftausdrücken und mir wurde klar, dass er nun völlig den Verstand verloren hatte.

Aber dann kam alles ganz plötzlich. Joseph holte aus, um mir kräftig eine zu geben und ich ging in Deckung, doch sein Schlag traf mich hart ins Gesicht und ich fiel zu Boden. Als ich wieder aufsah konnte ich nur noch den kantigen Stein sehen, wie er auf mein Gesicht zuflog, dann explodierte auch schon dieser Schmerz hinter meinen Schläfen und alles was ich noch sah, war ein riesiger Schatten, der über mich hinweg sprang und ich hörte Joseph laut aufschreien, es klang nach dem verzweifelten Aufbäumen eines verwundeten Bären im Todeskampf. Dann herrschte Stille.

Als ich vorhin wieder aufwachte, war der Mittag vorbei. Die Sonne beginnt nun bereits ihr abendliches rotes Licht über die Wälder zu werfen. Es ist wunderschön, dieses Licht verdeckt die Spuren der Verwüstung und des Todes, in diesem dunkelrot, in dem der Wald nun liegt, sind all das Blut und die Fetzen von menschlichen Körperteilen nicht mehr zu sehen. Es scheint, als ob dieser Kampf nie stattgefunden hätte.

Ich kann nicht beschreiben, wie es mir nun geht, ich frage mich nur die ganze Zeit über, warum sie mich verschont haben. Ich werde nun Josephs Überreste einsammeln und sie ehrenvoll bestatten, so lange noch ein wenig Licht herrscht.

Ich weiß nicht, ob dies jemals jemand lesen wird, mir ist es egal, ob diese Zeilen es jemals zu einem Bestseller schaffen werden, ich bitte nur um eines, um Vergebung.

Ich weiß nicht, was in mich geraten ist, ich sitze hier am Feuer und fühle mich einfach nur noch dreckig.
Ich habe von ihm gegessen.
Es mag sich schrecklich anhören und das ist es auch, aber in dem Moment war ich nicht mehr Herr meiner Sinne. Ich sah das rote Fleisch, roch den metallenen Geruch des Blutes und fühlte wie warm es noch immer war, es war, als wenn eine uralte, animalische Seite von mir Besitz ergreifen würde und ich aß von Josephs Arm.

Ich riss das Fleisch mit meinen bloßen Zähnen vom Knochen ab, hörte wie die Sehnen zerrissen und kaute es lange und genüsslich. Erst nachdem ich sah, dass ich nur noch einen Ellenknochen in der Hand hielt, der sauber abgenagt war, übergab ich mich.
Erst nach einer Stunden verebbte der Brechreiz und ich konnte beginnen meinen Bruder zu begraben.

Der Mond steht bereits hoch am Himmel und ich sehe sie näher kommen, das Feuer spendet nur noch wenig Licht und bald wird auch die letzte Glut erloschen sein und dann werden sie sich auch auf mich stürzen. Ich weiß nun warum, warum sie es getan haben, warum sie gewartet haben.
Sie wollten uns etwas lehren, sie haben uns gezeigt, wer von uns der bessere Mensch ist… sie töteten nur ihre verwundeten Kameraden, für die sie nichts mehr tun konnten, doch wir Menschen, wir töten, damit wir das größere Stück vom Hasen bekommen.

Das Feuer ist aus, sie Heult, sie ist es, mit den grauen Augen und den warmen Blicken. Ich bin beruhigt, dass sie es sein wird, die es tut…

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